INTERVIEW: BERLINER SPAZIERGANG

Ein Chorknabe, der die Richtung vorgibt

Mit dem Rücken zum Publikum steht er, wie immer. Direkt unter dem Brandenburger Tor. Dreht sich um, grinst.

Patrick Lange trägt Trenchcoat, Pullunder, Hemd und Jeans. Alles in Blau, ein bisschen konservativ vielleicht für seine 29 Jahre, auch der Haarschnitt. Er sieht schlanker aus als auf den Fotos, die es von ihm im Internet gibt. Seine Augen sind ziemlich klein, sie werden noch kleiner, wenn er lacht. Dazu Grübchen, kaum sichtbar, und ziemlich kleine Ohren. Ein junges Gesicht.

Er streckt die Hand aus zur Begrüßung, Männerhände, durchschnittlich, gepflegt.

Wenn man jemanden zum ersten Mal trifft, ist es irgendwie Usus, die Unsicherheit des ersten Moments mit Small Talk zu überspielen. Das Wetter, die Hinfahrt, die Parkplatzsuche, so was. Normalerweise übernehme ich das, Fotograf Martin Lengemann läuft nebenher. Diesmal ist es andersherum. Martin ist Opernfan und kennt sich aus. Ich leider überhaupt nicht. Die Herren plaudern also, sie haben sich schon einmal irgendwo getroffen und überlegen, wo, ich laufe nebenher. Eine ungewohnte Situation, die mich etwas nervös macht, Patrick Lange hat ja vermutlich nicht ewig Zeit. Als eine kurze Gesprächspause entsteht, werfe ich meine erste Frage dazwischen. Wie war das, als der Anruf kam?

Anfang Mai war das, als bei Patrick Lange, bis dato Kapellmeister der Komischen Oper Berlin, das Telefon klingelte: Er solle bitte zum Gespräch in die Verwaltung kommen. Er habe keine Ahnung gehabt, um was es da gehen sollte, sagt er, Termine gebe es ständig wegen irgendetwas. Er machte sich also „keinen großen Kopf“. Diesmal wurde er jedoch direkt ins Büro des Intendanten durchgewinkt. Andreas Homoki fragte ihn, ob er sich vorstellen könne, als Nachfolger von Carl St. Clair Chefdirigent des Hauses zu werden. Dass der texanische Generalmusikdirektor St. Clair das Haus wegen „künstlerischer Differenzen“ zwei Jahre früher als geplant verlassen würde, war da noch nicht offiziell. Doch es waren schwierige Tage, das Publikum hatte ihn bei der Premiere von Beethovens „Fidelio“ Ende April ausgebuht. Abgesehen von der albernen Inszenierung auf der Bühne sei auch die Musik „missglückt“, „uneinheitlich“, „eindimensional“ gewesen, hatte es danach in den Kritiken geheißen. Man wolle jetzt möglichst schnell einen Ersatz für St. Clair finden.

Eine Nacht Bedenkzeit erbat Lange sich, am nächsten Morgen sagte er zu. Die musikalische Leitung in einem der drei Berliner Opernhäuser übernehmen – eine „tolle Chance“ eben. Natürlich auch mit einem gewissen Risiko verbunden. Gerade mal zwei Wochen später begannen die Proben zur Neuinszenierung von Richard Wagners „Meistersinger von Nürnberg“. „Das war Wahnsinn“, sagt Patrick Lange. Mit viereinhalb Stunden Spielzeit immerhin eine der längsten Wagner-Opern, und eine, die Lange noch nie dirigiert hatte. „Das muss man erst mal in den Kopf reinkriegen, das sind schon sehr viele Noten.“

5614 Takte sind 16 200 Sekunden

Die Vorbereitung seiner Projekte beginnt für Patrick Lange üblicherweise am Schreibtisch, auch diesmal. Er hörte sich alte Aufnahmen an, ging die Noten durch, immer wieder. Die Partitur hat 858 Seiten. Insgesamt sind es 5614 Takte. Das bedeutet etwa 16 200 Sekunden lang dirigieren.

Vielleicht ist es unkultiviert, so etwas überhaupt zu denken, aber ich habe mich schon in dem einen oder anderen Konzert gefragt, wozu ein Dirigent eigentlich wichtig ist. Da steht einer und gestikuliert im Takt. Dabei weiß ja jedes Orchestermitglied selbst, worum es in dem Stück geht, und in den Noten steht schließlich immer ganz genau geschrieben, wann forte und wann piano gespielt werden soll. Ich frage ihn das. In dieser Dreierrunde bin ich sowieso der Kulturbanause.

Grübchen. So dürfe man das natürlich nicht sehen, sagt er. Jeder einzelne Instrumentalist, jeder Sänger auf der Bühne habe seine eigene Meinung. Ein Dirigent, sagt Patrick Lange, muss das alles berücksichtigen und auf einen Punkt bringen. „Einer muss schließlich die Richtung vorgeben, in die es gehen soll.“ Der Dirigent, so übersetze ich mir das, ist derjenige, der den Duktus der Geschichte vorgibt, der bestimmt, in welchem Tonfall sie erzählt wird. Patrick Lange spricht das mit seinen Musikern vorher gründlich durch, es wird geübt, mehrmals am Tag, wochenlang. Die Augen, die Ohren und die Hände sind sein Werkzeug, sein Instrument. Im Gespräch aber bleiben seine Hände ruhig. Manchmal unterstreicht er Worte mit einem direkten festen Blick.

Patrick Lange ist ein Schnellgeher. Das ist gut, das bin ich auch. Der Wind ist ziemlich stark, zwischendurch regnet es ein wenig, aber wir gehen einfach. Das Brandenburger Tor habe er als Treffpunkt gewählt, weil es so eine spannende Ecke von Berlin sei. Wir erreichen die Spree, fast schon in Nordic-Walking-Geschwindigkeit, und sprechen über den Tag, an dem die Mauer fiel. Da waren wir beide noch ziemlich jung, er war gerade mal acht Jahre alt. Seine Mutter habe damals eine Galerie geführt, erzählt er. Am Abend des 9. November 1989 feierte sie die Eröffnung einer Ausstellung mit Originallithografien von Marc Chagall. Im Laufe des Abends sprachen sich die Berliner Ereignisse auch auf dieser Vernissage im mittelfränkischen Greding herum. Patrick Lange saß im oberen Stockwerk vor dem Fernseher und fand es toll, dass hier Leute auf einer Mauer tanzten und weinten und sich umarmten. Daran erinnert er sich. „Da passierte etwas Großes, das war mir klar.“ Später, unten in der Galerie, habe er dann das Lied „So ein Tag, so wunderschön wie heute“ von Walter Rothenburg für die Gäste gesungen.

1981 in Roth bei Nürnberg geboren, wuchs Patrick Lange in Greding auf, einer wunderschönen alten Gemeinde mit einer Stadtmauer aus dem 14. Jahrhundert. Oder auch, wie er selbst sagt, der Stadt, „die besser bekannt ist für ihre McDonald’s-Abfahrt zwischen Ingolstadt und Nürnberg an der A 9“. Der Vater, Kunstlehrer, und die Mutter, Galeristin, achteten offenbar darauf, ihren beiden Söhnen die schönen Künste zu vermitteln. Patrick Lange begann mit sechs Jahren mit dem Klavierunterricht, später lernte er auch Klarinette, „Letzteres allerdings weniger erfolgreich“. Als Achtjähriger brachte er seine Eltern dazu, ihn in das 90 Kilometer entfernte Internat der Regensburger Domspatzen zu geben. Ein eher ungewöhnlicher Wunsch für einen Grundschüler. Doch kurz vorher hatte er auf der Weihnachtsfeier seines Lieblingsvereins FC Bayern München den Knabenchor singen gehört. Das hatte ihn so beeindruckt, dass er da auch mitmachen wollte. Er durfte.

Domkapellmeister in Regensburg war zu der Zeit Georg Ratzinger. Wir überqueren die Lutherbrücke und laufen an der nördlichen Uferseite zurück. Es ist ziemlich frisch. Und kein schönes Thema. Patrick Lange vergräbt seine Hände tief in den Manteltaschen. Im Frühjahr dieses Jahres war Ratzinger, Bruder von Papst Benedikt XVI., in die Kritik geraten, weil er Chorknaben geohrfeigt haben und gegenüber den Kindern jähzornig und cholerisch gewesen sein soll. Patrick Lange kennt ihn von einer anderen Seite, er nennt ihn ein Vorbild, der ihm die Liebe zur Musik näherbrachte. „Ich habe ihn schon als sehr emotionale Person kennengelernt“, sagt er. „Manchmal hat er bei den Proben herumgewütet, den Klavierdeckel knallen lassen. Aber ich habe niemals erlebt, dass er jemandem etwas getan hat, es ging ihm immer um die Sache.“ Nach der Chorprobe sei Ratzinger stets wieder der „liebe, nette Großvatertyp“ gewesen, der Bonbons an die Kleinen verteilte. Auch den Bruder Joseph Ratzinger, damals Kardinal, habe er häufig in den Gottesdiensten gesehen. Zu Georg Ratzinger, „einem der innigsten und persönlichsten Musiker“, die er je kennengelernt habe, sei der Kontakt nie ganz abgebrochen.

Obwohl der Schulwechsel sein eigener Wunsch gewesen war, habe er in den ersten Internatswochen furchtbares Heimweh gehabt. Während wir den Hauptbahnhof links hinter uns lassen, erzählt er vom Leben im Achtbettzimmer und dem „Duschappell“ zweimal in der Woche. Insgesamt sei er aber gern dort gewesen.

Das Einzige, was diese bilderbuchmäßige Musikerkarriere kurzzeitig unterbrach, falls man das überhaupt so sagen kann, war der Wunsch, Archäologe zu werden. Das erledigte sich, als ihm während eines Praktikums bei einer Ausgrabung auf der örtlichen Supermarktbaustelle klar wurde, dass Archäologen manchmal nass und schmutzig werden. Zum Beispiel, wenn es regnet, während man an einer versunkenen Keltensiedlung buddelt. Ab dann jedenfalls hieß das Berufsziel: Dirigent.

Patrick Lange ist jetzt der jüngste Chefdirigent Deutschlands. In dieser Spielzeit wird er 61 Vorstellungen mit sieben Neuproduktionen in der Komischen Oper geben, das ist ziemlich viel. Außerdem ist er für Gastspiele in Wien und Hamburg gebucht.

 

Patrick Lange ist jetzt der jüngste Chefdirigent Deutschlands. In dieser Spielzeit wird er 61 Vorstellungen mit sieben Neuproduktionen in der Komischen Oper geben, das ist ziemlich viel. Außerdem ist er für Gastspiele in Wien und Hamburg gebucht.

Mitsingen verboten

Gegenüber dem Reichstag macht Martin Lengemann die Fotos. Patrick Lange ist unsicher, wie er gucken und dastehen soll. Fotografiert werden ist nicht sein Ding. Er ist lieber im Orchestergraben.

Wir setzen uns auf die Treppe des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses. Sprechen über diesen besonderen Moment, kurz vor Beginn der Vorstellung. Lampenfieber habe er eigentlich nie, sagt Patrick Lange. „Die Atmosphäre hinter der Bühne, wenn alle hibbelig sind, das beruhigt mich eher. Da fühle ich mich wohl.“ Erst ganz kurz vorher ziehe er seinen Frack an, die Lackschuhe. Sein Opernkostüm. Dann einen Espresso, ein Moment der Ruhe, ganz bei sich. Ritual.

Manchmal singe er versehentlich mit, weil er es nun mal so liebe. Den Graf Almaviva aus Mozarts „Figaro“ sang er, ohne es zu bemerken, einmal so laut mit, dass der Bariton später zu ihm kam und sich beschwerte. „Er meinte, wenn ich das noch mal mache, reißt er mir den Kopf ab.“ Grübchen. Ein Dirigent, der führen muss, aber nicht mitmachen darf. Wie ein Fußballtrainer, der bloß vom Spielfeldrand aus Strategie und Taktik lenken kann, aber nicht mit aufs Feld darf. Wobei ich von Fußball, ehrlich gesagt, auch keine Ahnung habe.

Nach seiner Ernennung gratulierten Patrick Lange Dirigenten aus ganz Deutschland. Von den Berliner Amtskollegen Daniel Barenboim (Staatsoper Unter den Linden) und Donald Runnicles (Deutsche Oper) habe er bislang nichts gehört. Runnicles hatte bei seinem eigenen Antritt im vergangenen Jahr angekündigt, mit den beiden anderen Opernhäusern der Stadt zusammenarbeiten zu wollen. Auch er würde sich über einen Austausch freuen, sagt Patrick Lange. Dass sein Wirken als Chefdirigent zeitlich begrenzt ist, weil Barrie Kosky als künftiger

Intendant ab dem Jahr 2012 vermutlich eigene Akzente setzen wird, das nehme den Druck. „Aber Erfolgsdruck hat man natürlich trotzdem, als junger Künstler sowieso, auch vor mir selbst.“ Mit der Provokation auf der Bühne und im Orchestergraben hat er es nicht so. Er möchte Oper so machen, wie er sie selbst gern mag: unterhaltsam, aber ohne Schnickschnack, ein künstlerisches Zusammenspiel von Regie und Dirigieren. „Musik und Theater müssen sich auf Augenhöhe begegnen“, sagt Patrick Lange.

Seit zwei Jahren lebt er nun in Berlin, in einer Vierzimmerwohnung in Mitte, nicht weit von seiner Arbeitsstätte. Sein ganzes Leben dreht sich um die Musik, früher wie heute, privat hört er lieber nichts. „Ich brauche dann einfach mal Ruhe, als eine Art Reinigung.“

Die dunklen Wolken am Himmel sind mittlerweile weggeweht, die Sonne kommt heraus. „Richtig schön hier“, sagt Patrick Lange. Er nickt in Richtung Ufer. „Ich habe mich da abends schon mal mit einer Flasche Wein hingesetzt, das ist ja eigentlich traumhaft.“ In Zürich, wo er vorher wohnte, seien alle draußen am Wasser, mit Wein und Käse, „sobald es nur ein bisschen schön ist“. Aber hier sei er komisch angeguckt worden. Macht man wohl nicht in Berlin, dachte er da.

Wir gehen zurück, haben alle drei noch Lust, weiter zu reden. Das „Adlon“ steht gegenüber, da gibt es guten Kuchen. Für Wein ist es noch zu früh.

Musik und Theater müssen sich auf Augenhöhe begegnen

Patrick Lange, Chefdirigent der Komischen Oper, im Gespräch mit Anne Klesse

Mit Genehmigung der Berliner Morgenpost

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